CAPinside: Der ängstliche Blick auf die Bewertungen

Im Interview mit dem Finanzportal "CAPinside" spricht Rolf Kieckebusch über die aktuellen Bewertungsniveaus am Markt und die Erwartungen an das Börsenjahr 2022.

Das vergangene Börsenjahr war sensationell. Die Kurse sind stark gestiegen, mit
ihnen allerdings auch die Bewertungen. Sind Aktien mittlerweile zu teuer? Droht
eine Korrektur? Fällt das Börsenjahr 2022 vielleicht ins sprichwörtliche Wasser?
Experten erwarten zumindest einen holprigen Jahresstart.

Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, auch an der Börse. Und Aktien waren
zuletzt ein sehr gefragtes Gut, entsprechend sind die Kurse stark gestiegen. Der S&P
500 legte im vergangenen Jahr stolze 26 Prozent zu, der vor allem bei ETF-Anbietern
beliebte MSCI World um 17 Prozent, der Dax schaffte 16 Prozent – neue Rekorde
inklusive. Sind das schon Übertreibungen? Die führen an der Börse bekanntlich
unweigerlich irgendwann zu einer Korrektur.

„Die Bewertungen sind insbesondere in den USA sicherlich sehr ambitioniert“, sagt
Benjamin Bente, Geschäftsführer & Leiter Portfoliomanagement bei Vates Invest. Das
habe viel von ‚Priced to Perfection‘. Soll heißen: „Die Bewertungen können durchaus
so hoch bleiben, es darf aber nicht viel schiefgehen“, erkärt der Experte. „Wir halten
Bewertungsniveaus daher nicht für einen guten Indikator im Sinne des Timings.“ Nur
weil etwas teuer ist, heißt es nicht, dass es zeitnah fallen muss. „Das haben wir in
den späten 1990er-Jahren gesehen, als die Märkte über einen langen Zeitraum
extrem hoch bewertet waren und dennoch erst sehr viel später gecrasht sind.“
Bewertungsniveaus würden also wenig darüber aussagen, wann die Kurse fallen. Sie
skizzieren vielmehr die Fallhöhe, wenn die Dinge nicht mehr so perfekt laufen und
das Gummiband dann zurückschnellt.

Wann ist hoch zu hoch?

Trotzdem schauen Investoren gebannt auf die Bewertungen und fragen sich, wie man
„sehr hoch“ oder gar „zu hoch“ eigentlich definiert. Ivan Mlinaric betrachtet vor allem
das langfristige Shiller-KGV. Dieses liegt aktuell bei 39,7 und hat damit zuletzt neue
zyklische Höchststände erreicht. „Höhere Werte wurden nur in der Spitze der
Internetblase um das Jahr 1999 erreicht“, sagt der Geschäftsführer der Quant.Capital
Management GmbH. Doch wann ist hoch zu hoch? Im historischen Maßstab
erscheinen die aktuellen Bewertungen auf den ersten Blick tatsächlich sportlich, sagt
auch Rolf Kieckebusch. „Setzt man diese allerdings in Beziehung zu den
gegenwärtigen Anleiherenditen, dem so genannten Renten-KGV, relativieren sich die
Bewertungen aus unserer Sicht auf ein durchaus vertretbares Niveau“, sagt der
Vorstand der Kirix Vermögensverwaltung.
Also Entwarnung? Leider nicht. Es sind sehr hohe Zuwachsraten bei den Gewinnen
eingepreist, zumindest bei den US-Aktien. Ein Grund liegt in der Tendenz der
Analysten, Gewinne systematisch zu überschätzen. „Wir sehen in unseren
Risikoanalysen, dass die Unternehmensgewinne in den vergangenen 20 Jahren
häufig stark überschätzt wurden“, sagt Mlinaric. „Und das umso stärker, je
optimistischer die Börsenzeiten gerade waren.“ Gemessen an den für das aktuelle
Geschäftsjahr erwarteten Unternehmensgewinnen wird der S&P 500 Index mit
einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 23 gehandelt. „Seit 1950 wurde der S&P 500 im
Durchschnitt mit einem KGV von etwa 18 gehandelt“, so Mlinaric. Die Börsenexperten
erwarten für das kommende Geschäftsjahr einen weiteren Anstieg der
Unternehmensgewinne um 8,8 Prozent. „Unsere Berechnungen zeigen, dass die
Analysten dazu tendieren, die Gewinne der US-Firmen ein Jahr im Voraus im
Durchschnitt um 6,5 Prozent zu überschätzen.“

Druck auf Margen wächst

Die Frage ist also, ob die Unternehmensgewinne noch mithalten können. „Wir
erwarten, dass die Dynamik des Gewinnwachstums 2022 nachlassen wird – im
ungünstigen Fall sogar erheblich“, sagt Bente. „Ein Preisanstieg der Input-Faktoren
wie Rohstoffe, aber zunehmend auch Lohnkosten infolge von Lohnsteigerungen,
könnte trotz weiter steigender Umsätze die Margen der Unternehmen deutlich
drücken.“ Kieckebusch ist überzeugt, dass es eine starke Branchenabhängigkeit gibt.
„Unternehmen mit Skalierungsmöglichkeiten und
entsprechender Preissetzungsmacht werden weiter profitieren“, sagt er. „Für Firmen,
die steigende Einkaufspreise und Löhne nicht weitergeben können, erwarten wir
allenfalls stagnierende Gewinnmargen.“ Angesichts der noch immer drohenden
Gefahr einer Stagflation oder zumindest eines deutlich langsameren
Wirtschaftswachstums sind die Gewinnsteigerungen für 2022 möglicherweise nicht
nur systematisch, sondern auch von den realen Zahlen her deutlich zu hoch
angesetzt. „Für Anleger ist es wichtig, sich diese Zusammenhänge bewusst zu
machen und möglicherweise einen Risikoabschlag auf die Bewertungen
vorzunehmen“, sagt Mlinaric.

Endet 2022 die buy and hold-Phase?

Also keine guten Aussichten für das Börsenjahr? „Aus unserer Sicht ist 2022
durchaus ein Jahr, in dem Abwärtsbewegungen drohen, und auch bei der Volatilität
erwarten wir eine Rückkehr zur Normalität“, sagt Bente. 2021 sei ein extremes Jahr
für „Buy and Hold“-Investoren gewesen. Perfekt, aber historisch eine Ausnahme.
2022 will die Fed aus der hyperstimulativen Geldpolitik aussteigen. „Das wird dem
Markt früher oder später Liquidität entziehen – zurzeit eine entscheidende Grundlage
für die hohen Bewertungsniveaus“, warnt er. Mit dem Ende dieser Geldpolitik bestehe
klar korrektives Potenzial und die Möglichkeit einer heftigeren Korrektur an den
Aktienmärkten. „Heftige Korrekturen gab es immer und wird es auch weiterhin
geben“, ergänzt Kieckebusch. Aktuell würden geopolitische Krisen wie in der Ukraine
oder in Taiwan sowie erneute dauerhafte Störungen der Lieferketten durch
angeordnete Lockdowns in China als mögliche Auslöser erscheinen. „Allerdings
denken wir, dass sich das Sentiment für Aktien weltweit derart verbessert hat, dass
zahlreiche Investoren allfällige Korrekturen zum Einstieg nutzen werden.“

© Jessica Schwarzer Journalistin, Moderatorin, Buchautorin